…und sie nicht 31… Wobei ich das gar nicht genau weiß. Aber ich weiß noch, dass sie ein ER war. Und er war mein Religionslehrer…
🛑Stopp: Das liest sich komisch
Es geht hier nicht um sexuelle Übergriffe!
Nachdem ich nun schriftlich die Handbremse gezogen habe, lenke ich den Text in eine andere Richtung und fange noch einmal anders an. Ich war 16 Jahre alt, als ich das erste Mal tief „gefallen“ bin. Psychisch.
Aber der Reihe nach. Auslöser war (kurz nach Schuljahrsbeginn), dass ich als getaufter Katholik im Religionsunterricht die Aufgabe hatte, einen Aufsatz über den Sinn des Lebens aus meiner Sicht zu schreiben. Also setzte ich mich hin und fing an nachzudenken.
Nun sollte ich erwähnen, dass ich schon immer naturwissenschaftlich veranlagt und auch stets neugierig, gar wissbegierig war und es bis heute bin. Ich hatte damals schon ein Verständnis von Systemen im allgemeinen, also wie verschiedene Faktoren sich gegenseitig beeinflussen und zusammen wirken.
Darüber hinaus kannte ich mich schon recht gut mit Biologie aus. Nein, nicht was den Fortpflanzungsakt angeht, sondern eher wie Organismen entstehen, wie und auf welcher Basis sie funktionieren. Einen besonderen Dank gilt hier meiner Mutter, durch die ganzen Bücher, die sie während ihres Medizinstudiums gesammelt hatte, konnte auch ich viel lernen.
Doch was brachte es mir? Ich verstand, wie so ein Mensch aufgebaut ist. Ich verstand, dass es ein kompliziertes, aber vor allem interessantes Zusammenspiel von Chemikalien ist, was uns „werden“ lässt. Das Ganze dann in Kombination mit elektrischen Impulsen – innerhalb der Zellen, über die Nervenbahnen und auch im Gehirn.
Jetzt verzeih mir lieber Leser, wenn ich das ganz stark vereinfache, aber ich erkannte, dass der Mensch und alle anderen Tiere und Pflanzen … nicht viel anders sind als Maschinen. Maschinen die durch Evolution eine Betriebssystem (Operating System – OS) erhalten haben.
Bei manchen ist dieses OS nur Grundlegend vorhanden, bei Pflanzen z. B. – bei anderen weiter entwickelt.
Zurück zu meinem Aufsatz, den ich damals für das Religionsfach verfasst habe. Ich schrieb meine nüchternen Gedanken auf und gab ihn ab. Der Religionslehrer fand den Text nicht so gut und auch meine gläubigen Klassenkamerad:innen konnten meinen Ausschweifungen nicht folgen, als ich beschrieb: „Der Mensch ist nichts anderes als ein biologisch aufgebauter Chemo-Elektrischer Roboter, der ein besonders weit entwickeltes OS hat, dessen Sinn alleinig die Reproduktion ist“.
Der Mensch ist nichts anderes als ein biologisch aufgebauter chemo-elektrischer Roboter, der ein besonders weit entwickeltes OS hat, dessen Sinn alleinig die Reproduktion ist.
EinfachBernie
Im nächsten Halbjahr habe ich dann keine Religion mehr gehabt.
Hinzufügen sollte ich, dass ich trotz der dann gekommenen Umstände überhaupt noch mit der Schule weitermachen durfte. Denn im ersten Halbjahr war ich dann nicht mehr so viel anwesend.
Dieser Gedanke, dass „ich bin nur eine Maschine mit Betriebssystem“ blieb im meinem OS hängen, wurde zu einer Schleife.
Und irgendwann kam dann noch die Erkenntnis dazu, dass „Wenn ich nur ein Betriebssystem bin..“ gleichbedeutend ist mit der Tatsache, dass es keine Seele gibt. Und wenn es keine Seele gibt, dann war für mich klar, dass es kein Leben nach dem Tod gibt.
Das wiederum ließ und lässt nur einen Schluss zu. Mit dem Tod endet meine Existenz, mein Bewusstsein mein „Ich“. Nichts wird mehr existieren.
Für einen sechzehnjährigen – und mit Verlaub für jede Person jeden Alters – zieht eine solche Erkenntnis den Boden unter den Füßen weg.
Ich fiel.
Nicht körperlich. Doch anders lässt sich das nicht mit kurzen Worten beschreiben.
In einer langen Beschreibung: Stell Dir einfach vor, Dir wird von einem Augenblick zum nächsten schwindelig. Dein Blutdruck sackt ab und Dein Körper fühlt sich weit entfernt und taub an. Zudem umgreift eine eisige Hand Dein Herz und versucht es nach hinten und unten aus Dir herauszuziehen. Du bist der Ohnmacht voller Verzweiflung nahe.
Das ist es, wenn ich vom Fallen spreche.
Es dauerte nicht lange bis ich suizidale Gedanken hatte. An einem der Tage, an denen ich mal wieder nicht zur Schule gegangen bin, sondern einfach mit dem Rad den Niederrhein erkundet habe, um mir meine Gedanken zu vertreiben überkam es mich einfach.
Ich fand mich auf der anderen Seite des Geländers einer Eisenbahnbrücke wieder. Ich bin mir nicht ganz sicher, ich erinnere mich daran, dass ich auf die Hochleitungen springen wollte, anstatt mich vor einen Zug zu werfen. So würde ich den Stromschlag bekommen und wenn es nicht klappt, dann würde ich mir hoffentlich das Genick brechen.
Ich stand da wohl eine Weile und war voll fixiert auf die Leitungen. Geistesabwesend. Ich kann nicht mehr sagen, was ich da genau gedacht habe, oder ob ich auf irgendwas gewartet habe.
Doch plötzlich wurde ich am Arm gepackt und auf die Brücke gezogen. Ich war geschockt, riss mich los und setzte mich voller Panik aufs Rad und floh.
Wie ging es mir danach? Ich fuhr nach Hause und verdrängte in den kommenden Wochen alles. Was mir half, war die Tatsache, dass ich noch Geschwister bekam und so z. T. die Aufgabe übernahm für sie da zu sein.
Die Gedanken über die eigene Sterblichkeit wurden in die aller aller allerhinterste Ecke in meinem Kopf verdrängt, behelfsmäßig zugemauert und vergessen.
Das Gemäuer brach aber wieder auf als ich die 30 überschritten hatte und das mit voller Wucht. Ich war geschwächt durch einen Burnout, den meine damalige Call-Center-Tätigkeit verursachte.
Zudem solltest Du wissen, dass ich kurz vor diesem Zeitpunkt Yvi geheiratet und mit Ihr eine Familie gegründet habe. Unsere – damals noch – drei Kids gingen zum Kindergarten.
Von einem auf den anderen Moment fiel ich wieder, wurde von diesen Gefühlen übernommen. Ich steckte in einem Loch. Ganz weit unten.
Ich wollte einfach nicht mehr. „Leben heißt Leiden“ … und ich wollte nicht leiden. Wollte dem ein Ende setzen. Habe überlegt, wie ich es machen könnte.
Doch wie Du an diesem Text hier erkennst, lebe ich noch. Und das habe ich Yvi, meiner Frau, zu verdanken. Sie merkte, dass ich „komisch“ drauf war und hat nicht nachgelassen, zu fragen, was mit mir los sei.
Irgendwann habe ich es ihr erklärt. Habe ihr erklärt, was in mir vorgeht, welche Gedanken ich habe. Auch, dass ich erneut an Selbstmord dachte.
Sie hatte Geduld mit mir und gab mir viel Kraft in dieser Zeit. Und rückblickend bewundere ich sie dafür, dass sie das ausgehalten hat. Es muss für sie eine massive psychische Belastung gewesen sein, dass ihr Mann eine wandelnde Bombe (im übertragenen Sinne) war. Jederzeit hätte sie losgehen können und er sich etwas antun.
Einmal Stand ich mit dem Auto an einer Kreuzung und war gerade am Fallen. Ich hatte die Idee, einfach Gas zu geben und mit voller Wucht in die Mauer am Ende der Straße zu krachen. Ich rief sie an, erklärte es ihr und sie beruhigte mich.
So ging es das ein oder andere Mal. Und im Laufe der nächsten Monate habe ich dann gelernt damit umzugehen und mein Schicksal einer einmaligen Existenz zu akzeptieren.
Was mich aber heute noch immer nicht davor schützt, wieder zu fallen. Die Auslöser sind mannigfaltig. Manchmal reicht es eine tote Person im TV zu sehen, manchmal ist es ein Bericht, den ich lese und manchmal ist es einfach nur stumm dasitzen.
Wenn ich heute falle, oder auch nur den Anflug davon bemerkte, lenke ich mich ab, gebe Yvi Bescheid und gemeinsam kommen wir auf andere Gedanken.
Aber auch mein Schicksal zu akzeptieren brachte und bringt mir in gewisser Hinsicht Vorteile. Ich habe eine weniger eingeengte Sicht auf viele Dinge und habe mich von althergebrachten unlogischen Konventionen befreit. Dadurch bin ich viel kreativer und freier geworden, als ich mit einer konservativen Einstellung je hätte sein können. Zudem bin ich noch neugieriger.
Dies ist wohl mein persönlichster und intimster Blogeintrag, den ich je machen werde. Weniger als eine Handvoll wissen über diese Gedanken in mir Bescheid. Dazu gehören Yvi, meine Schwester und noch zwei Menschen – bis zum Zeitpunkt, als ich diesen Eintrag veröffentlichte. Wenn Du ihn gelesen hast würde ich mich gerne über eine Rückmeldung freuen.
Wenn Du selbst mit Deinen Gedanken in einer schwierigen Lage bist, gar Selbstmordgedanken hast, dann empfehle ich Dir mit jemandem darüber zu reden.
Schäme Dich nicht. Reden hilft – wirklich!
Nutze gerne das Telefon der Seelsorge, dort sind Menschen, die sich mit dem Thema auskennen.
Hier die Rufnummer: 0800 111 0 111
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